„Lässt man das Unperfekte nicht mehr zu, reduzieren wir uns auf Maschinen.“

robot-507811_640Digihuman im Dialog mit Conny Dethloff, Teil 1/2

“Digitalisierung: Was passiert da gerade eigentlich?” fragt die OTTO Group und hat eine Blogparade zur Digitalisierung ausgerufen. Dass man sich dort auch grundsätzliche Fragen stellt und einem Dialog öffnet, finde ich gut. Und deshalb habe ich Conny Dethloff, der bei OTTO für ‘Business Intelligence’ zuständig ist und die Blogparade mit einem hervorragenden ersten Artikel eröffnet hat, zum Dialog auf digihuman.org eingeladen. In unserem Gespräch wird deutlich: Die Digitalisierung treibt eine Entwicklung auf die Spitze, die vor vielen Jahrhunderten mit Naturwissenschaften und Technik begann und nun mehr und mehr zu einer Entfremdung des Menschen von sich und seinesgleichen führt. Was können wir tun, um diesen Prozess aufzuhalten?

Andreas Schiel Lieber Conny, ich freue mich, dass Du dabei bist! Gerade hast Du einen sehr grundsätzlichen Blogartikel über die Digitalisierung geschrieben, ein Thema mit dem Du ja auch beruflich viel zu tun hast. In dem Artikel geht es aber nicht nur um die üblichen Fragen wie ‘Wie digitalisiert man sein Business richtig?’ oder ‘Wie schult man die Mitarbeiter?’, sondern um Grundsätzliches. Du stellst in Deinem Text die These auf, Digitalisierung führe zu einer Entfremdung des Menschen von sich selbst. Kannst Du das mal ein bisschen erläutern?

Conny Dethloff Moin Moin Andreas, erst einmal vielen Dank für die Einladung zu diesem Interview. Ein wirklich geniales Thema: Digitalisierung und die Folgen. Du sagst es, Digitalisierung begleitet mich permanent im beruflichen Alltag, was mir die Möglichkeit gibt, oft darüber zu reflektieren und Erkenntnisse zu generieren.

Nun zu Deiner Frage. Digitalisierung führt zu einer Entfremdung von uns Menschen zu uns selbst und damit dann auch zu anderen Menschen. Wie komme ich zu dieser Aussage und was meine ich damit?

Ich beziehe mich in diesem Kontext auf die Naturwissenschaften und der damit einhergehende Fluch und Segen des Fortschritts in diesen. Mit dem Aufblühen und dem Verfeinern der Naturwissenschaften haben wir Menschen begonnen, Naturereignisse zu verstehen. Mit dem Verstehen kam immer mehr das Verlangen, Natur zu beherrschen. Dieser Wandel geschah nicht ruckartig, sondern peu à peu, was letztendlich eine bewusste Wahrnehmung erschwert. Wir haben in diesem Sinne eine operationale Theorie geschaffen, die nicht nur dafür genutzt wird, “Realität” zu verstehen, sondern auch diese zu beeinflussen und zu verändern. Diesen Fakt erkennt man beispielsweise an der Urbarmachung der Natur, in dem beispielsweise Wälder gerodet oder Flüsse umgeleitet werden, um Autobahnen zu bauen.

Was lassen wir im Rahmen der Naturwissenschaften aber außer Acht? Durch die Dichotomie zwischen Materie und Geist, wird der Fakt, dass Menschen ebenfalls Teil der Natur sind, in den blinden Fleck verlagert. Damit wenden wir diese operationale Theorie auch auf Menschen an, was uns letztendlich immer mehr die Fähigkeit nimmt, zu denken und zu fühlen. Wir berauben uns also nach und nach unserer zutiefst menschlichen Fähigkeiten, was uns immer mehr den Maschinen annähern lässt. Das führt dann dazu, dass wir in diese menschliche Fähigkeiten, Denken, Wahrnehmen, Fühlen etc. auch kein Vertrauen mehr haben.

Woran mache ich diese These fest? Man kann es tagtäglich beobachten.

  • Bei Problemen und Fragestellungen im beruflichen Alltag wird immer gleich nach Methoden und Best Practice gerufen, anstatt erst einmal selber zu denken und zu fühlen.
  • Fühlen wir uns körperlich schlecht, greifen wir gleich zum Fieberthermometer, anstatt in uns hinein zu horchen.
  • Bei Bewerbungsgesprächen wird mehr auf Lebensläufe und Zeugnisse vertraut, als sich voll und ganz im Gespräch auf den Menschen einzulassen.
  • Intelligenz wird ohne wirklich erklären zu können, was sie ist und wie sie entsteht, als Kennzahl IQ auf eine Skala gepresst und damit Menschen eingewertet.

Die Liste an Beispielen lässt sich ohne Probleme verlängern. Stimmst Du in diesem Kontext mit meiner Wahrnehmung und Reflektion überein?

Andreas Schiel Danke für Deine Ausführungen! Ich glaube, es besteht gar kein Zweifel, dass wir uns mit dem Fortschreiten unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation auch ein gutes Stück von der Natur und damit auch von uns selbst entfernt haben. Das kann man in so wunderbar klaren Worten formulieren, wie Du das gerade getan hast, so dass es eigentlich jeder, der noch mit einem gesunden Menschenverstand ausgestattet ist, das nachempfinden kann. Nun möchte ich Dir aber zwei Fragen stellen: 1.) Inwiefern ist das wirklich problematisch? Schließlich bringt jede Lebensweise Vor- und Nachteile mit sich. 2.) Was hat das Ganze mit dem aktuellen Trend der Digitalisierung zu tun, also der fortschreitenden Veränderung unserer Gesellschaft mit Computertechnologie, wenn es doch eine schon seit Jahrhunderten andauernde Entwicklung ist?

(Digitaler) Denkfehler: Das Leben ist nicht kompliziert, sondern komplex!

Conny Dethloff Da möchte ich gleich mal auf Deine erste Frage eingehen. Auf die Vorteile des Fortschritts in den Naturwissenschaften bin ich bereits kurz eingegangen. Und diese möchte ich auch gar nicht missen. Wenn ich beispielsweise in der Woche in Hamburg arbeite und nicht zu Hause bei meiner Familie in Rostock sein kann, kann ich Ihnen doch durch via Skype oder Whatsapp sehr nah sein und wir können miteinander reden.

Allerdings versuchen wir, angestachelt durch den wahnsinnigen Erfolg der Naturwissenschaften, jedes Problem in den Lösungsraum der Naturwissenschaften zu verlagern. Dadurch begehen wir aber, wie ich es in einigen meiner Beiträge angesprochen habe, einen Kategorienfehler beim Übergang von Komplexität in die Kompliziertheit. Diesen möchte ich kurz ausführen.

Komplexe Probleme sind formal-logisch im Zweiwertigen Denkrahmen nicht beschreibbar, da Komplexität Widersprüchlichkeit impliziert und unser Denkrahmen diesen aussperrt. Methoden und Standards basieren nun mal auf Zweiwertigkeit. Würden Methoden widersprüchlich sein, würden wir diese negieren, da wir ihren Mehrwert nicht sehen. Um also Methoden als Lösung heranziehen zu können, müssen wir komplexe Probleme in komplizierte transformieren. Diese Transformation ist für uns so normal geworden, dass wir darüber schon gar nicht mehr reflektieren. Die gefundene Lösung dann, die ja auf das transformierte komplizierte Problem beruht, wenden wir dann auf das komplexe Problem an. Kategorienfehler.

Dazu gebe ich Dir gerne ein Beispiel aus der Bildung. Viele Menschen bemerken, dass die Bildung wohl nicht mehr den Ansprüchen genügt, die Lösungskompetenz für unsere heutigen komplexen Probleme zu vermitteln. Was wird aber getan? Es wird darüber debattiert, ob 8 oder 9 Jahre Gymnasialstufe notwendig sind, um Menschen die notwendige Reife mit auf dem Weg zu geben. Komplexität wird in den Raum der Kompliziertheit übertragen und dort belassen.

Mit Begehen dieses Kategorienfehlers sind wir einem Teufelskreis aufgesessen. Teufelskreis deshalb, weil wir es hier mit einer sich selbst verstärkenden Schleife zu tun haben. Wir bemerken, dass die gefundenen Lösungen sehr häufig nicht die Probleme lösen (siehe oben mit dem Beispiel der Bildung). Logisch, sie haben ja aufgrund der vorgenommenen Transformation nichts miteinander zu tun. Das befeuert in uns die Unsicherheit, die wir ja eigentlich mit unserer analytischen Vorgehensweise im Problemlösen und den damit gefundenen Methoden überwinden wollen. Also wird unser Verlangen nach noch mehr Methodik und noch mehr Standards immer größer. Dabei werden unsere Probleme nicht gelöst, sondern noch verschärft.

Wir erschaffen uns also Systeme, wie Politik, Bildung oder Wirtschaft, mit denen wir Menschen uns die Kompetenz nehmen, die komplexen Probleme unserer Gesellschaft lösen zu können. Ja wir verschärfen diese noch. Erkennen kann man das eindrucksvoll an den aktuellen Entwicklungen in der Welt, wie die Flüchtlingskrise oder den Terrorismus. Gefragt sind an dieser Stelle “Brückenbauer”, die aufgrund ihrer sozialen Kompetenzen in der Lage sind,  Experten verschiedener Fachrichtungen an einen Tisch zu holen und gemeinsam eine Lösung zu schmieden. Nur werden eben diese “Brückenbauer” in unserer heutigen Gesellschaft gar nicht gesucht und auch nicht belohnt, da diese zutiefst menschlichen Fähigkeiten, wie Denken, Wahrnehmen, Fühlen, Reflektieren, Kommunizieren etc. besitzen müssten und nicht unbedingt Methodenkompetenzen.

Und nun kurz zu Deiner zweiten Frage. Ich habe das Gefühl, dass wir so langsam dem Tipping Point des eben angesprochenen Teufelskreises entgegen gehen. Wenn beispielsweise Ray Kurzweil (Leiter der technischen Entwicklung bei Google) sinngemäß äußert, dass wir gar nicht umhin kommen, Maschinen immer “intelligenter” zu machen, da nur diese in der Lage wären, unsere heutigen Probleme lösen zu können, wird es brenzlig.

In dem gleichen Maße, wie wir unsere Maschinen besser machen, sollten wir uns wieder auf uns selbst besinnen, und unsere menschlichen Fähigkeiten stimulieren. Tun wir es nicht, stumpfen wir immer mehr ab und reduzieren uns auf Fähigkeiten der Maschinen. Und in diesem Kontext werden wir Menschen dann austauschbar. Es ist also höchste Zeit umzudenken, um uns nicht unserer Lebensgrundlage auf der Erde zu berauben. Unsere derzeitigen komplexen Probleme werden Maschinen niemals für uns lösen können, da ihnen Fähigkeiten wie Denken und Wahrnehmen fehlen.

Ich habe für mich bereits einige Dinge in meinem Alltag diesbezüglich geändert. Darauf kommen wir bestimmt noch zu sprechen.

Andreas Schiel Ich lese aus Deiner Antwort: Das naturwissenschaftliche Denken, durch Logik und eine einfache Mechanik geprägt, verführt uns durch seine Erfolge in bestimmten Bereichen dazu, dieses Denken auf alle Lebens- und Problembereiche anzuwenden. Also nicht nur auf das, was wir die unbelebte Natur nennen, sondern zum Beispiel auch auf das Verhalten und die persönliche Entwicklung von Menschen. Das bringt uns in die Gefahr, uns selbst wie Gegenstände, vielleicht wie Maschinen zu behandeln und uns auch so zu verstehen. Ich teile Deine Ansicht, dass das ein sehr ernsthaftes Problem ist.

Aber, mit der Bitte um eine kurze Antwort, damit wir das ganz klar bekommen, bevor wir noch etwas praktischer werden: Du sprichst, auch in vielen Deiner Blog-Artikel, häufig von der zweiwertigen Logik als Grundlage des modernen Denkens. Kann man nun also sagen, dass die Digitalisierung mit ihrer Codierung aller Inhalte und Zusammenhänge in unterschiedliche Kombinationen der Werte 0 und 1 den von Dir beschriebenen Prozess auf die Spitze treibt? Dass also die Informatisierung und Computerisierung unser gesamten Lebensrealität uns nochmals ein Stück weiter in das Missverständnis treibt, wir könnten mit unserer naturwissenschaftlichen Logik die Welt vollumfassend verstehen, beschreiben und lenken?

Conny Dethloff Dankeschön. Besser hätte ich es nicht beschreiben können. Genau das meine ich.

Digitalisierung wird von Nerds vorangetrieben, die keinen bis wenig Wert auf das Soziale und Menschliche legen. Alles dreht sich um Technologie oder wie Du es schreibst “die unbelebte Natur”. Dazu ein kleines Beispiel, um es griffig zu bekommen. In Vorträgen höre ich immer wieder, dass wir in Zukunft in unseren Wohnungen keine Küchen mehr haben müssen, da Kochen nicht mehr notwendig sein wird. Man kann sich Alles und in Windeseile bestellen. Man kann den Raum, der heute noch für Küchen reserviert ist, dann für andere Sachen nutzen. Was verkennen die Verkünder dieser Nachrichten aber? Das Kochen kann auch Akt sozialer Interaktion sein und die Küchen somit der Raum für das soziale Miteinander.

Allerdings, und das betone ich immer wieder und auch gerne, sind wir mit unserer Technologie, die auf der Zweiwertigen Logik beruht, heute noch weit davon entfernt, intelligente Maschinen zu konstruieren. Warum? Man müsste nämlich etwas Unperfektes schaffen. Das Unperfekte ist das was uns Menschen ausmacht und uns von den Maschinen unterscheidet. Das Unperfekte ist Quelle für Kreativität und Neues. Lässt man das Unperfekte in uns Menschen nicht mehr zu, reduzieren und trivialisieren wir uns zu Maschinen.

[weiter zu Teil 2]

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conny_grosConny Dethloff (*1974) hat sein Studium als diplomierter Mathematiker 1999 abgeschlossen. Direkt im Anschluss ist er in die Wirtschaft eingestiegen, bis 2011 als Unternehmensberater bei PwC und IBM Deutschland GmbH und ab dem Jahre 2012 als Division Manager im Bereich Business Intelligence bei der OTTO GmbH & Co KG. Dort ist seine Aufgabe OTTO im Kontext BI, Big Data und Kultur in das digitale Zeitalter zu führen. Erkenntnisse, die er im täglichen Arbeitsleben generiert, reflektiert er seit 2009 in seinem Logbuch „Reise des Verstehens“.

2 Kommentare

  1. Hat dies auf im Zuge der Zeit rebloggt und kommentierte:
    Brauchen wir eine Technologie, die auf einer Drei-, Vier- oder Mehrwertigen Logik beruht?!
    Ein erleuchtender Beitrag, in zwei Teilen, von Conny Dethloff und Andreas Schiel über Big Data, Entwicklung und Auswirkungen der aktuellen Digitalisierungs-Wahn.

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