Groß denken, klein anfangen

robot-507811_640Digihuman im Dialog mit Conny Dethloff, Teil 2/2

Im ersten Teil meines Dialogs mit Conny Dethloff von der OTTO Group haben wir gemeinsam festgestellt, dass die Digitalisierung wohl einen Prozess der Entfremdung des Menschen von sich selbst befördert und wir ernsthaft Gefahr laufen, uns selbst zu Maschinen zu degradieren. Muss das aber so sein? Kann man nicht gegen diesen Trend handeln?

Andreas Schiel Danke für die Zuspitzung. Mit dem Unperfekten lieferst Du mir einen guten Anknüpfungspunkt für meine nächste Frage. Unsere heutige Welt ist stark durch Wettbewerb geprägt und folgt nicht in allen, aber doch in vielen Lebensbereichen, einer vulgärdarwinistischen Evolutionslogik: Wer sich nicht ständig verbessert, bleibt zurück, wird an den Rand gedrängt und womöglich vernichtet. Diese Logik machen sich sowohl Unternehmen, als auch Individuen zu Eigen, die mit allen möglichen Mitteln Selbstoptimierung betreiben. Dabei kommen uns die digitalen Algorithmen gerade recht, weil sie diesen Optimierungsprozess noch beschleunigen und intensivieren können. Du bist bei der OTTO Group für den Bereich ‘Business Intelligence’ zuständig. Daher meine Frage: Kann man technik- und datengestützte Optimierung auch betreiben, ohne dabei das Menschliche aus dem Blick zu verlieren?

 

Conny Dethloff Oh ja, das kann man. Ich würde sogar behaupten, dass man Daten und die darauf aufsetzenden Algorithmen nur dann gewinnbringend einsetzen kann, wenn man sich über die Grenzen der Verwendung von Daten bewusst ist, und dementsprechend das Menschliche integriert.

Mit Big Data und den darauf basierenden Algorithmen kann man Aktionen von Menschen aus der Vergangenheit beobachten, allerdings ohne diese zu werten. Es wird also ausschließlich gemessen. Die unbelebte Natur kann komplett abgebildet werden. Das “Was” (Korrelation) wird beantwortet. Diese Beobachtungen lassen sich aber nicht bewerten, da der Kontext, also die seelische Welt der Menschen, unsichtbar bleibt. Das “Warum” (Kausalität) bleibt im Verborgenen. Dementsprechend lassen sich auch über Algorithmen keine Erkenntnisse generieren. Für das “Warum” benötigt man den Menschen. Und nur wenn man das “Warum” beantwortet, kann man Erkenntnisse aus Daten gewinnen.

Wie gesagt, die Schnittstelle zwischen der unbelebten materiellen und der belebten seelischen Welt ist nicht ergründet. Setzen wir Algorithmen, die einzig und allein in der materiellen Welt ihre uneingeschränkte Daseinsberechtigung haben, zum Abbilden dieser Schnittstelle ein, begehen wir den bereits vorhin thematisierten Kategorienfehler zwischen Kompliziertheit und Komplexität.

Wir sind uns bei OTTO dieses Übergangs zwischen Kompliziertheit und Komplexität bewusst und verbinden daher das Gute aus den Algorithmen, dem “Perfekten”, mit dem Guten, das wir Menschen einbringen, dem “Unperfekten”.

 

Andreas Schiel Also, ich glaube ja schon, dass man Geld verdienen kann mit der falschen Annahme, Algorithmen würden nicht nur abbilden, was Menschen tun, sondern wie und wer sie sind. Das funktioniert solange, wie meine Kunden mir diese Geschichte abkaufen und damit das Gefühl haben, einen Mehrwert zu erwerben. Was sind denn aus Deiner Sicht gute, pragmatische Argumente, nicht in diese Falle zu tappen? Das Geschäft mit Big Data blüht ja augenblicklich ebenso, wie die Fantasien darüber, was man in Zukunft noch alles damit anstellen könnte.

 

Conny Dethloff Absolut, da bin ich bei Dir. Derzeit wird auf Basis dieser falschen Hypothese sehr viel Geld verdient. Aber nur weil man mit “etwas” Geld verdient, bedeutet es ja nicht  automatisch, dass dieses “etwas” auch gut für uns Menschen ist, oder einen Mehrwert für uns darstellt. Denn diese falsche Hypothese beruht ja auf dem Irrtum, dass Erkenntnisse der Naturwissenschaften 1:1 auf die belebte Natur übertragen werden können.

Du sprichst den Mehrwert für Menschen an, auf den ich kurz eingehen möchte. Lassen wir ausschließlich Daten und Algorithmen für uns “entscheiden”, dann erkaufen wir uns damit ein relativ ödes Leben. Warum? Die Vergangenheit wird linear in die Zukunft fortgeschrieben, Überraschungen werden ausgesperrt. Kaufe ich beispielsweise lieber Adidas-Sportschuhe als Nike-Sportschuhe, werden mir auch in der Zukunft in Onlineshops stets Adidas-Sportschuhe angeboten, keine Nikes.

Lassen wir beispielsweise im Recruitment in Unternehmen ausschließlich Daten und Algorithmen “zu Wort” kommen, und Diskussionen darüber laufen ja bereits, in wie weit Maschinen über Einstellungen entscheiden können, werden wir immer die gleiche Art von Menschen einstellen, die heute bereits in Unternehmen tätig sind. Weiterentwicklung wird dann erschwert. Ich beispielsweise schaue mir vor Einstellungsgesprächen nichts von den Bewerbern an, weder Zeugnisse noch Lebensläufe, noch Bilder. Ich möchte mich vor dem Gespräch von nichts “Unbelebtem” konditionieren lassen, sondern mich ausschließlich auf den Menschen im Rahmen des Gespräches einlassen und dann auf Basis meines im Gespräch gewonnenen Gefühls entscheiden. Lebensläufe und Zeugnisse sind genau deshalb für mich nicht entscheidungsrelevant, weil ich ja nicht weiß in welchem Kontext diese entstanden sind.

Hat man erst einmal die Mehrwerte genossen, die sich einstellen, wenn man Daten und Algorithmen gekonnt mit den menschlichen Fähigkeiten, wie Denken und Fühlen integriert, wird man davon nicht mehr loskommen. Da bin ich mir sicher. Aber dafür darf man die Erkenntnisse rund um die Naturwissenschaften nicht blind annehmen, sondern reflektierend mit diesen umgehen.

Teilst Du diese Erfahrung in diesem Kontext?

Was tun gegen Entmenschlichung durch Algorithmen?

 

Andreas Schiel Ich glaube jedenfalls auch, dass es eine Art von Umgang mit (digitaler) Technologie gibt, der uns nicht nur im monetären Sinne sehr bereichern kann. Das zeigt sich ja schon heute an vielen Nutzungsformen, von denen unser Kennenlernen via soziale Netzwerke und unser Austausch hier mittels eines über die Cloud geteilten Dokuments nur ein positives Beispiel unter vielen ist. Aber die Risiken sind natürlich auch da. Deshalb zum Abschluss nochmals eine grundsätzliche Frage an Dich. Ich sehe mit den aktuellen und zukünftig noch erwartbaren Entwicklungen im Bereich Big Data und künstliche Intelligenz durchaus das Menschliche in unserer Zivilisation gefährdet. Gerade weil es, wie Du ja treffend bemerkt hast, noch nicht gelungen ist und vielleicht nie gelingt, tatsächlich menschenähnliche künstliche Intelligenz zu schaffen. Da muss gar nicht eine Superintelligenz die Weltherrschaft an sich reißen, es reicht vollkommen aus, wenn wir alle wichtigen und unwichtigen Angelegenheiten unseres Lebens freiwillig der Steuerung durch Algorithmen unterwerfen. Was glaubst Du, ist der beste Weg, ein solches Szenario zu vermeiden?

 

Conny Dethloff Das ist eine schwierige, aber natürlich auch die alles entscheidende Frage. Es gibt kein Rezept, da es sich hier um ein komplexes Problem handelt. Methoden oder Best Practice helfen nicht weiter.

Auf der einen Seite sollten wir langfristig “groß” denken und dementsprechend handeln. Was meine ich damit?

Regeln im System konditionieren Menschen im Denken und Handeln. Möchte ich ein System ändern, sollte ich bei genau diesen Regeln anfangen. Menschen direkt ändern zu wollen ist nicht förderlich. Zu solchen Regeln gehören beispielsweise Kennzahlen, die Erfolg in unserer Gesellschaft messen, wie das Bruttoinlandsprodukt. Wenn ich mir überlege, dass durch das Zerstören unserer Umwelt das BIP positiv befeuert wird, weil diese ja wieder repariert werden muss, ist das Wahnsinn, oder? Wird also Zerstörung belohnt, muss man sich nicht wundern, wenn zerstört wird. Noch niemals in der Geschichte haben sich Menschen gegen den technologischen Fortschritt gestellt, schon gar nicht, wenn man damit Geld verdienen konnte und unabhängig davon, ob dieser Fortschritt zerstörerisch wirkt. Hier muss man mit Systemregeln ansetzen.

Im Fußball wundern wir uns ja auch nicht, wenn die Spieler Tore im gegnerischen Tor erzielen wollen. Das ist eben eine Spielregel und Ziel des Spiels, wogegen die Spieler gemessen werden. Vor ein paar Jahren wollte man das Fußballspiel schneller und attraktiver gestalten. Selbstverständlich ist man diesbezüglich nicht auf die Spieler zugegangen und hat ein schnelleres Spiel verlangt. Man hat die Regeln geändert, in dem man die Rückpassregel zum Torwart eingeführt hat.

Wenn ich von Messen von Erfolg schreibe, dann muss man sich natürlich vorher die Frage beantworten, wie Erfolg überhaupt definiert wird. Erfolg sollte niemals selbstzerstörerisch für ein System wirken, wie es beispielsweise das quantitative Wachstum für unsere Gesellschaft ist.

Hier sehe ich auch unsere Politiker in der Pflicht. Derzeit nehme ich ausschließlich operatives und taktisches Agieren der Politiker wahr. Es geht ausschließlich um Kurzfristigkeit und das mit einer “Weg-Von” Mentalität. Ich sehe derzeit kaum Politiker, die sich strategisch Gedanken darum machen, wie unsere Gesellschaft beispielsweise in 10 Jahren aussehen soll, ein Zielbild definieren und auf dieser Basis dann neue Regeln und Gesetze erlassen, damit sich Handlungen von Menschen ändern. Ich vermisse diese “Hin-Zu” Einstellung.

In der Bildung vermisse ich beispielsweise das Lehren von ganzheitlichen Systemwissenschaften, wie Kybernetik und Systemtheorie. Auch die Philosophie würde hier inspirierend für den angesprochenen Umdenkprozess wirken. Stattdessen fokussieren wir uns auf unsere Fächer, wie Mathematik, Physik, Biologie etc. und bilden so Fachexperten aus, die es verlernt haben, vernetzt und systemisch zu denken.

Wir sollten aber auch, und das jeder Einzelne von uns, “klein” und kurzfristig denken, um mit kleinen wahrgenommenen Erfolgen den langfristigen Prozess zu befeuern. Ich versuche beispielsweise meine gewonnenen Erkenntnisse in diesem Kontext mit Anderen zu teilen und so die Reichweite zu erhöhen. Dieser Dialog trägt auch dazu bei. Deshalb noch einmal herzlichen Dank für die Einladung.

Regeln brechen, Algorithmen „irritieren“

Ich breche aber auch regelmäßig meine eigenen Handlungsmuster und “irritiere” damit Algorithmen, die mich im Netz personalisieren und individualisieren wollen. Beispielsweise suche ich im Netz in regelmäßigen Abständen nach Produkten oder Themen, die mich eigentlich gar nicht interessieren. Damit erhöhe ich den Optionsraum an möglichen Inhalten aus dem Netz, die mich bereichern und im Erkenntnisprozess weiter bringen. Es wird also nicht immer nur das befeuert, was ich in der Vergangenheit getan habe und das ausgespart, was ich nicht getan habe.

Des Weiteren verlasse ich mich im Umgang mit Menschen immer weniger auf Daten. Das Beispiel mit den Recruitingprozess habe ich ja bereits angesprochen. Aber auch wenn ich Mitarbeiter in ihren Leistungen bewerten muss, mache ich das nicht auf Basis von quantifizierbaren Kennzahlen, sondern auf Basis eines gemeinsam durch ständige Interaktion mit dem Mitarbeiter gewonnen Gefühls.

 

Andreas Schiel Aus Deiner langen Antwort auf meine Frage entnehme ich einerseits mehrere Ansatzpunkte, um in Zukunft mit Technologie anders umzugehen und über unseren jetzigen Denk- und Handlungsrahmen hinauszuwachsen: Zielvorstellungen einer anderen, besser organisierten Gesellschaft überhaupt erst entwickeln und in die Öffentlichkeit tragen. Neue, klügere Regeln für unser Wirtschaften und unser Zusammenleben setzen, die auf multiperspektivischen, systemischen Denkansätzen beruhen. Durch das bewusste Brechen von Regeln und Routinen aus dem (scheinbar) berechenbaren Alltag ausscheren und damit für andere spürbar machen, dass man nicht berechenbar ist und sie es auch nicht sind.

Ich merke aber auch: Manches davon ist noch so weit weg von unserem Alltag und auch von unserem alltäglichen Verständnis der Welt, dass hier nicht nur gehandelt, sondern erst einmal auch weitergedacht und -diskutiert werden muss. Insofern fühle ich mich darin bestärkt, diesen Denk- und Dialogprozess weiter anzuschieben. Und ich freue mich, dass wir das mit diesem Gedankenaustausch hier gemeinsam tun konnten. Herzlichen Dank an Dich, für den interessanten Dialog, Conny!

***

conny_grosConny Dethloff (*1974) hat sein Studium als diplomierter Mathematiker 1999 abgeschlossen. Direkt im Anschluss ist er in die Wirtschaft eingestiegen, bis 2011 als Unternehmensberater bei PwC und IBM Deutschland GmbH und ab dem Jahre 2012 als Division Manager im Bereich Business Intelligence bei der OTTO GmbH & Co KG. Dort ist seine Aufgabe OTTO im Kontext BI, Big Data und Kultur in das digitale Zeitalter zu führen. Erkenntnisse, die er im täglichen Arbeitsleben generiert, reflektiert er seit 2009 in seinem Logbuch „Reise des Verstehens“.

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